Der rote und der schwarze Senat
Eine Witwe hatte das Testament ihres verstorbenen Mannes angegriffen, durch welches dieser seine Geliebte als Alleinerbin eingesetzt hatte.
Der Richter regte einen Vergleich an. Der Anwalt der Witwe unterstützte die Anregung, indem er seiner Mandantin in aller Öffentlichkeit und Offenheit munter folgendes darlegte:
"Wissen Sie, mit der Sittenwidrigkeit eines solchen Testaments, das ist eine Sache für sich. Vielleicht gewinnen Sie in erster und zweiter Instanz.
Aber beim BGH, da gibt es einen roten und einen schwarzen Senat. Kommt die Sache vor den schwarzen Senat, dann werden Sie wahrscheinlich recht behalten.
Kommt die Sache aber vor den roten Senat, dann müssen Sie damit rechnen, den Prozeß zu verlieren. Ich rate Ihnen deshalb zu einem Vergleich.“
Die Witwe blickte fassungslos zum Richter: ,,Das kann doch nicht wahr sein?“
Der Richter war etwas betreten. Doch dann sagte er
,,Ihr Anwalt hat die Dinge etwas vereinfachend dargestellt.
Ich würde es etwas anders formulieren.
Es gibt Dinge, die sind rot und schwarz zugleich, und zwar derart, dass man nicht sagen kann, welche Farbe überwiegt.
Gerade darüber wird aber ein Urteil verlangt.
Da kann es darauf ankommen, ob die Pupille des Urteilenden leichter die rote oder die schwarze Farbe aufnimmt.
Es sind diese Unterschiede in der Struktur des Auges, die noch keine krankhafte Abweichung von der Norm bedeuten.
Man nennt das im Bereich des Sozialen auch Pluralismus.
Es ist also möglich , dass hier die Zahl derer überwiegt, deren Augen für schwarz durchgängiger sind, und doch kann niemand sagen, dass
irgendjemand falsch sieht.
Da man die Augen nicht ändern kann, gibt es nur einen Ausweg:
Man muß die Sache nehmen wie sie ist - rot und schwarz.“
Die Witwe nahm den Vergleich an.
aus: Maier, Kunst des Rechtsanwalts, Herne/ Berlin 1982, S. 186