Ingrid Noll, Geistige Verwandte
Eine Zeitlang bekam ich "Essen auf Rädern",
aber ich habe es wieder abbestellt.
Es war allzu reichlich und schmeckte mir nicht.
Nur um den jungen Mann, der es brachte,
tut es mir leid. Er plauderte immer ein wenig mit mir.
Ich weiß nicht mehr genau, ob er Philosophie oder Soziologie studierte.
Jedenfalls hielt er mich nicht für verkalkt,
denn zuweilen äußerte er sich zu Gedanken und Theorien,
die mir ganz neue waren.
"Adorno fordert das Recht des Individuums,
ohne Angst anders sein zu können..."
Dieser Satz ist mir in Erinnerung geblieben.
In meiner Jugend war an ein solches Recht überhaupt nicht zu denken!
Warum sich Albert das Leben genommen hat, weiß niemand so genau, aber ich ahne dunkel...
Der Soziologiestudent hat einen Pferdeschwanz und Ohrringe,
weswegen ich alte Törin ihn vorschnell eingeordnet hatte;
eines Tages brachte er seine Freundin mit,
und ich mußte mein Weltbild revidieren.
Als ich das Essen kündigte,
schenkte ich ihm Albert's Ring:
eine Steinkamee aus Achat
mit dem edlen Profil eines griechischen Philosophen.
Es gibt g e i s t i g e V e r w a n d t e ,
die ebenso wie die leiblichen erben sollten.
Ingril Noll, Kalt ist der Abendhauch, S. 7