Sturzprophylaxe in Altenheimen Die aktuelle Rechtsprechung Die Stürze älterer und gebrechlicher Menschen in Alten - bzw. Pflegeheimen nehmen zu. Zum einen ist dies auf den gestiegenen Kostendruck in der Altenpflege, die knappen finanziellen Mittel und die mangelnde personelle Ausstattung zurückzuführen; zum anderen werden die Bewohner älter und gebrechlicher. Regelmäßig stellt sich regelmäßig die Frage, ob das Heim bzw. das Pflegepersonal für den Sturz des Bewohners haftet, weil es spezielle Schutzmaßnahmen unterlassen hat. Nicht selten enden Streitigkeiten zwischen Patienten, Krankenkassen und Heimen vor Gerichten. Es geht regelmäßig um Forderungen von beachtlicher Höhe (5.000 – 90.000 €). Es gibt inzwischen eine Vielzahl von Urteilen der Landes- und Oberlandes-gerichte. Das Urteil des Bundesgerichtshofs vom 28.4. 2006 befaßt sich mit der Frage, ob die Altenpflegeeinrichtung für die Kosten den Behandlung einer gestürzten Heimbewohnerin haftet. Dieses Urteil ist bedeutsam, weil es den ersten höchstrichterlichen Entscheid zu diesem Thema darstellt. Regelmäßig stellen sich folgende Fragen: 1. Unter welchen Voraussetzungen haften das Heim bzw. das dort beschäftigte Personal für den Sturz des Bewohners? 2. Wie weit gehen ihre Pflichten aus dem Heimunterbringungsvertrag? 3. Welche Schutzmaßnahmen müssen bzw. dürfen gegebenenfalls präventiv getroffen werden, ohne die Grundrechte des Bewohners zu beeinträchtigen? 2. Beispiele aus der Praxis W ist ein 81- jähriger Bewohner eines Altenheimes. Er ist wegen eines Schlaganfalls in schlechtem Allgemeinzustand mit schwerer Beeinträchtigung des Stütz- und Bewegungsapparates. W ist außerhalb seines Bettes auf den Rollstuhl angewiesen (Pflegestufe II). W befuhr mit dem Rollstuhl das Gelände der Pflegeeinrichtung, stürzte dabei aus dem Gefährt und zog sich eine Platzwunde am Kopf und eine Prellung am Knie zu. An diesen Sturz schlossen sich in der Folgezeit weitere an. Von der klagenden Krankenversicherung wurden Heilbehandlungskosten in Höhe von 2062,75 € geltend gemacht mit der Behauptung, das Heim habe es unterlassen, den Sturz durch zumutbare Maßnahmen zu verhindern. Das Heim verteidigte sich damit, es sei seiner Betreuungspflicht ordnungsgemäß nachgekommen. Das Amtsgericht verurteilte das Altenheim, an W die kompletten Heilbehandlungskosten in Höhe von 2062,75 € nebst Zinsen zu zahlen. Die Berufung des Heims vor dem Landgericht hatte Erfolg; es hob das Urteil des Amtsgerichts auf. (LG Frankfurt a. M., Urteil vom 12.11.2004 – 2/1 S 178/03) Ein anderer Fall lag dem Urteil des BGH vom 28.4.2005 - III ZR 399 / 04 - zugrunde: Es ging um die Haftung des Pflegeheimes für den Sturz einer 92-jährigen, sehbehinderten und zeitweise desorientierten Heimbewohnerin, die in ihrem Zimmer aus dem Bett gefallen war und sich dabei einen Oberschen-kelhalsbruch zugezogen hatte. Die Einzelheiten des Sturzes konnten nicht aufgeklärt werden. Der BGH hat im Ergebnis eine Haftung des Heimes ausgeschlossen. 3. Pflichtverletzung des Pflegepersonals ? Bei der Frage, ob ein Pflichtverstoß des Pflegepersonals vorliegt, betonen die Gerichte die Schutzpflichten des Heims zu Gunsten des Heimbewohners. Bei der Bestimmung des Maßes dieser Pflichten führen die Gerichte aus, dass diese begrenzt sind auf Maßnahmen, die in Heimen „üblich“ und mit einem „vernünftigen finanziellen und personellen Aufwand“ realisierbar sind. Doch, was ist in Pflegeheimen „üblich“, was „vernünftig realisierbar“? Der BGH sagt, dass das Heim und sein Pflegepersonal keinesfalls berechtigt und verpflichtet ist, alle nur denkbaren Sicherungsvorkehrungen zu treffen, um einen Sturz auf jeden Fall zu vermeiden. I Das verbietet schon das Grundrecht auf Fortbewegungsfreiheit (Art. 2 II 2 GG), auf freie Entfaltung der Persönlichkeit (Art. 2 I GG), auf körperliche Unver-sehrtheit ( Art. 2 II 1 GG ) und die Menschenwürde (Art. 1 I GG). Aber auch unterhalb der Grundrechte – im Heimgesetz – gibt es Regelungen, die den Inhalt haben, die Selbstbestimmung der Bewohner zu wahren und zu fördern, wie in § 2 I Nr. 1 und Nr. 2 HeimG. Dadurch sollen die persönlichen Interessen und Bedürfnisse der Bewohner den erforderlichen unbedingten Schutz durch die Rechtsordnung erfahren. Ein Bettgitter schützt zwar zuverlässig davor, aus dem Bett zu fallen und sich zu verletzen, es stellt aber gleichzeitig einen empfindlichen Eingriff in die Selbstbestimmung des alten Menschen und schränkt seine Freiheitsrechte ein. Mit Blick auf den anfangs erwähnten Heimunterbringungsvertrag, scheint es für die Klärung der Haftungsfrage auf den ersten Blick sehr einfach zu sein: Das Heim bzw. das dort beschäftigte Personal trifft aus dem Heimunterbrin-gungsvertrag eine grundsätzliche Verpflichtung, ausreichende und geeignete Maßnahmen zu treffen, um Verletzungen der Bewohner zu verhindern. Kommt es zu einem Sturz des Heimbewohners, könnte man also schluss-folgern, genau dieses Risiko habe sich realisiert. Die Folge wäre jedoch eine quasi uferlose Haftung des Heimbetreibers für Unfälle auf seinem Gelände. Diese zu starre und unflexible Auffassung wird von der weit überwiegenden Anzahl der Gerichte nicht geteilt. Vielmehr ist – nach der herrschenden Rechtsauffassung – bei der Beurteilung des Sorgfaltsmaßstabs, welchem eine Pflegeeinrichtung entsprechen muss, eine andere Betrachtungsweise vorzuziehen: In dem Spannungsfeld zwischen Maßnahmen zur Vermeidung von Stürzen einerseits und den Rechten des Heimbewohners andererseits kommt es – dies betont der BGH ausdrücklich – auf eine am jeweiligen Einzelfall orientierte umfassende Güterabwägung an, bei der die überragende Bedeutung der Grundrechte angemessen berücksichtigt werden muss. Dies bedeutet, dass jeweils abhängig vom Grad der gesundheitlichen Gefährdung des Patienten bzw. der Intensität und Dauer der Schutzvorkehrun-gen diese Abwägung im Einzelfall sehr unterschiedlich ausfallen kann. Präventive Maßnahmen zur Sturzvermeidung sind vnur zulässig, wenn konkrete Anhaltspunkte für eine Eigen- oder Fremdgefähr-dung vorliegen. Dass es bei der Verwirklichung des allgemeinen Lebensrisikos gelegentlich zu Stürzen kommt, sei – so das Gericht ausdrücklich – im Interesse des allgemeinen Persönlichkeitsrechts und der Menschenwürde der Heimbewohner hinzunehmen. Diese Einzelfallbetrachtung bedeutet für den Alltag in einem Pflegeheim aber auch, dass die Beaufsichtigungspflichten in bestimmten Konstellationen – insbesondere bei konkreten Anzeichen für eine erhebliche Selbstgefährdung oder beim vermehrten Auftreten von Stürzen in der Vergangenheit – sehr weit gehen können. Zum Beispiel ist es ohne weiteres denkbar, dass Heimbewohner mit Fall-sucht beim Toilettengang von mehreren Pflegekräften begleitet werden müssen, um dem dargelegten Sorgfaltsmaßstab zu genügen. In solch einem Falle, wo quasi eine Dauergefahr von Stürzen besteht, kann das Heim gleichsam verpflichtet sein, den Betreuer des alten Menschen zu veranlassen, einer die Freiheit des Heimbewohners einschränkende Maßnahme – dies wäre z.B. die Anbringung eines Bettgitters – zuzustimmen und die hierzu erforderliche Zustimmung vom Vormundschaftsgericht einzuholen. Auf der anderen Seite gilt jedoch zu bedenken, dass es einer erheblichen Überdehnung der Pflichten des Pflegepersonals gleichkommen würde, bei jedem Patienten ständig zugriffsbereit sein zu müssen. Insbesondere, wenn es sich um Heimbewohner handelt, die noch nie gestürzt sind. Stürzt ein Heimbewohner, der bisher für das Pflegepersonal unauffällig und sicher selbstständig laufen konnte und bei dem keine Fallsucht oder Deso-rientierung diagnostiziert wurde, dürfte es sich dabei um das oben angespro-chene allgemeine Lebensrisiko handeln, welches im Interesse eines selbst-ständigen Lebens der Heimbewohner hinzunehmen ist und dem Heim somit auch nicht als Pflichtverletzung angelastet werden kann. 4. Schlussbetrachtung Zusammenfassend ist feststellen, dass der Bundesgerichtshof sich in seinem Urteil vom 28.4.2005 dafür ausspricht, dass in Altenheimen keine „Bewachung rund um die Uhr“ durch Bettgitter, Fesselungen oder medika-mentöse Ruhigstellung stattfindet, um Stürze zu vermeiden. Vielmehr soll den Bewohnern von Altenheimen ein möglichst selbstständiges und selbstbestimmtes Leben ermöglicht und die Intimsspähre der Bewohner soweit wie möglich respektiert werden. Als Fazit ist die Tatsache herauszustellen, dass das Urteil des Bundesge-richtshofs vom 28.4.2005 die Rechtsprechung zu Schadensersatzansprüchen von Stürzen in Alten - und Pflegeheimen maßgeblich prägen und den Betei-ligten eine wichtige Orientierung geben wird. Da der Bundesgerichtshof jedoch zu Recht auf den jeweiligen Einzelfall abstellt, in den er den Grad der Beeinträchtigung des Heimbewohners, die Intensität der angedachten Sicherungsmaßnahme und den Umfang der vom Heim geschuldeten Leistung, einfließen lässt, gibt er insoweit keine generalisierende und vorhersehbare Linie vor. Zwar führt die Einzelfallbetrachtung auf der einen Seite zu einer gewissen Einzelfallgerechtigkeit, weil alle Details des konkreten Falles umfassend berücksichtigt werden, auf der anderen Seite sorgt sie aber auch dafür, dass Fälle weniger berechenbar, in den Ausmaßen regelmäßig komplexe Formen annehmen und damit in zunehmendem Maße unübersichtlich werden. Insofern ist davon auszugehen, dass die Auseinandersetzungen zwischen Krankenkassen und Altenpflegeheimen die Gerichte und Anwälte auch in Zukunft beschäftigen werden. Skript von Herrn Stud. jur. Eugen Rühl jun. im Rahmen seines Anwalts-praktikums 08/2005 >>zurück<< |