Heute vor 25 Jahren...
08. Juni 2020
„Spricht was dagegen,
wenn ich noch ´ne Runde mit dem Rad drehe?“
Die Schwägerin richtete sich auf im Beet,
in dem sie kopfüber Unkraut gezupft hatte.
Es kam die Gegenfrage:
„Schlafen die Kinder schon, hast Du ihnen vorgelesen?“
Sie strich eine Haarsträhne mit dem Rücken des Unterarms
zurück; die Hände steckten in Gartenhandschuhen
an diesem Frühsommerabend.
Es sprach nichts dagegen.
Wie so oft war er ermattet nach Hause gekommen.
Den ganzen Tag hatte er im Auto gehockt,
telefoniert, mit Handwerkern und Häuslebauern verhandelt.
Sein Job als Bauleiter einer Firma für schlüsselfertiges Bauen.
Tagsüber hatte es immer mal geregnet.
Jetzt wollte der Abend mit milder Sonne für den Tag entschädigen.
Also aufs Rad steigen und ab durch die Hohe Mark,
des Tages verwickelten Faden hinter sich abrollen.
Sprach was dagegen ?
Es sprach !
Ein Golf mit 170 PS unter der Haube.
Man sah sie ihm nur nicht an. Also ein "Wolf im Schafspelz".
Der gab richtig Gas auf der Granatstraße nach Reken,
an der Stelle, an der alle aus dem Tunnel des dunklen Waldes ins Freie rauschen.
Mein Bruder hat dessen Tempo einfach unterschätzt.
Er hatte Vorfahrt zu achten.
Ehrgeizig, wie Hobby-Sportler nunmal sind,
wollte er schnell noch seine Fahrt ausnützen
und die Straße überqueren.
Der Aufprall schleuderte sein Rennrad
gut zwanzig Meter weit auf einen Acker.
Er war so schwer verletzt, daß er ins künstliche Koma versetzt wurde.
Aus dem sollte er nicht mehr erwachen
im Unfallkrankenhaus, wohin man ihn geflogen hatte.
Es war Donnerstag, der 08. Juni 1995 gegen 21 Uhr.
Am Samstag, den 10. Juni gegen 14 Uhr
informierte uns ein Anruf aus der Klinik:
Der Pupillenreflex zeige, daß das Gehirn nicht arbeite.
Man erklärte uns, der Aufprall habe die Halsschlagader inwendig aufgerissen,
so daß das Blut nicht mehr ungehindert zum Gehirn fließen könne.
Es bekomme daher zu wenig Sauerstoff.
In seinem Arbeitszimmer - ausgestattet mit den
Fotos seiner Zeit als Fliegerarzt der Luftwaffe und einem Starfighter-Modell -
eröffnet uns der Chefarzt, meinem Bruder sei nicht mehr zu helfen,
nur noch eine lebende Hülle.
Ob wir uns vorstellen könnten, seine Organe zu spenden.
Rums !
Das Wochenende wurde uns Bedenkzeit gegeben.
Die Schwägerin, von Beruf MTA (Medizinisch-Technische Assistentin),
wußte, worum es ging:
Das EEG (Elektro-Enzephalogramm) mißt unbestechlich,
was sich dem Auge des Betrachters entzieht:
Das Gehirn arbeitet nicht mehr - unwiderruflich.
Wir stimmten zu:
Einig darüber, daß unser Bruder stolz darauf gewesen wäre, i
m Tod noch zu etwas nütze zu sein.
Fünf Menschen konnten durch seine Organe überleben;
die (zwei-lappige) Leber konnte einem Kind
und einem Erwachsenen gespendet werden.
Aber, der Abschied ist ein Kraftakt,
der nur bei allergrößter Anstrengung des Kopfes gelingt.
EEG - schön und gut, der Rest braucht -
unendliches - Vertrauen.
Das darf man nicht mißbrauchen !
Fehlt dieses Vertrauen, müssen Todkranke lange,
zu lange, auf Organspenden warten.
Gibt es Aufklärung und Vertrauen,
sind die Menschen zur Organspende bereit - und sagen:
Es sprichts nichts dagegen !